Ich hatte heute kein Thema. Nicht wirklich ernsthaft, schwerwiegend genug, es hier zu besprechen. Denn: Ein Thema muß vielleicht nicht weltbewegend sein, aber es muß mich bewegen, wenn ich darüber schreiben soll.
Dann zappte ich durch die Kanäle, landete bei ARTE und blieb hängen, weil mir die Sache bekannt vorkam.
Wir sprachen letzthin vom Holocaust. Was man sagen sollen darf oder was nicht. Was sagen zu dürfen klug scheint oder auch nicht. Und ich erinnerte mich, daß mich einstens, als junger Mensch, der ich damals war, nicht der obligatorische Besuch in Buchenwald bewegt hatte (Ja, doch, natürlich! Diese wandelnden Leichen im Film waren schrecklich, aber wir verdrängten es mit unseren vierzehn Jahren, die wir damals alt waren.), sondern ein paar Jahre später Victor Klemperer mit seinem LTI (Lingua Tertii Imperii - Die Sprache des Dritten Reiches). Das lasen wir freiwillig, zu einer Zeit, in der wir verständig genug waren und selbst die Spätachtundsechziger bereits wieder runter von den Barrikaden.
LTI war eine Mischung aus dem Alltagsbericht eines Juden im Dritten Reich und philologischer Betrachtung nazistischer Sprache. Eine Mischung ebenso aus emotionaler Beteiligung des Betroffenen und distanziert wissenschaftlicher Beurteilung. Das machte den Reiz aus. Da war keiner, der uns, die wir als Folgegeneration der Täter irgendwie genauso schuldig sein sollten, eine Beteiligung zusprach. Da wurde, genau genommen, niemand beschuldigt. Sondern nur gefühlt und betrachtet.
Was mich viel mehr angerührt hat als alle anderen Sachen, die ich zum Thema je las. Da blieb plötzlich Raum für mein eigenes Denken. Den wollte ich und den brauchte ich. Ich war ja nicht grundsätzlich abgeneigt, irgendeine "Volksschuld" zu akzeptieren. Aber man mußte mir, die ich all das nicht selbst erlebt hatte, doch Gelegenheit und Raum geben, zu begreifen.
Und übrigens: Victor Klemperer war´s auch, der mir beigebracht hat, auf Sprache zu achten. Noch immer reden wir von "liquidieren" (wo wir vernichten meinen) und "ankurbeln" (wo keine Maschinen, sondern Menschen gemeint sind). Wir reden noch immer, oder viel mehr denn je in einer Sprache, die mit Menschen nichts zu tun hat, obwohl es doch um Menschen geht.
Und dank Klemperer kann ich diese unmenschliche Sprache hören und mir meine Gedanken machen.
(Interessierte mit entsprechenden Empfangsmöglichkeiten können sich die Wiederholung am 03.02.07 auf ARTE ansehen.)
excellent! danke fuer den hinweis auf victor klemperer.
The book is available in English on Amazon: The Language of the Third Reich.
But I think American readers should start with his diary: "I Will Bear Witness: A Diary of the Nazi Years, 1933-1941" - an amazing story of survival and the resilience of the human spirit.
Posted by: David | February 01, 2007 at 10:27 AM